“Bei uns funktioniert das halt” – Warum dein Kind bei Oma brav ist und bei dir nicht

Dein Kind sitzt bei Oma am Tisch und isst brav auf. Zuhause? Chaos. Der Kommentar: “Bei uns klappt das problemlos. Du musst nur konsequent sein.”

Die Frage, die dich nachts wach hält: Was mache ich falsch? Die Antwort der Wissenschaft ist eindeutig: Absolut gar nichts.

Warum sich Kinder bei verschiedenen Bezugspersonen anders verhalten

Die Bindungstheorie nach John Bowlby und Mary Ainsworth liefert eine klare Erklärung: Kinder zeigen ihr wahres Selbst nur bei den Menschen, bei denen sie sich am sichersten fühlen.

Die sichere Basis: Du bist der wichtigste Mensch

Bei Oma und Opa ist die Bindung anders als zu dir. Das Kind spürt unbewusst: “Hier muss ich mich ein bisschen zusammenreißen.” Diese Anpassung geschieht automatisch – das Kind funktioniert bei den Großeltern im sogenannten Anpassungs-Modus.

Bei dir als primärer Bezugsperson fällt diese Maske komplett.

Du bist die sichere Basis – der Ort, an dem dein Kind nicht perfekt sein muss. Mary Ainsworth beschreibt dieses Konzept so: Die Bindungsperson ist sowohl “sicherer Hafen” bei Stress als auch “sichere Basis” für Exploration.

Das bedeutet konkret:

• Bei dir zeigt dein Kind echte Emotionen – Frust, Müdigkeit, Wut

• Bei dir muss es nicht funktionieren, sondern darf einfach sein

• Bei dir werden alle aufgestauten Gefühle losgelassen

• Bei dir ist bedingungslose Liebe spürbar – unabhängig vom Verhalten

Das ist kein Zeichen von Respektlosigkeit. Es ist das größte Vertrauenszeichen, das dir dein Kind geben kann.

Der Cortisol-Effekt: Warum “brav sein” Stress bedeutet

Jetzt wird es wissenschaftlich spannend: Forschungen zur Eltern-Kind-Bindung zeigen, dass Kinder bei weniger vertrauten Bezugspersonen einen erhöhten Cortisol-Spiegel haben – selbst bei geliebten Großeltern.

Was passiert im Körper deines Kindes?

Cortisol ist unser Stresshormon. Ein erhöhter Spiegel versetzt den Körper in einen Zustand erhöhter Wachsamkeit:

Bei Oma (erhöhtes Cortisol):

• Erhöhte Aufmerksamkeit und Wachsamkeit

• Unterdrückte spontane Impulse

• Mehr Selbstkontrolle

• Angepasstes Verhalten

• “Gäste-Modus” aktiviert

Bei dir (niedriges Cortisol):

• Komplette körperliche und emotionale Entspannung

• Alle Emotionen dürfen ungefiltert raus

• Authentisches Verhalten ohne Anpassung

• “Zuhause-Modus” – sicher und geborgen

Dein Kind ist bei Oma nicht entspannter – es ist im leichten Stress-Modus. Bei dir darf es endlich loslassen.

Bindungsverhalten verstehen: Warum Kinder sich unterschiedlich zeigen

Die Bindungsforschung unterscheidet verschiedene Bindungsmuster. Bei einer sicheren Bindung – und das ist das Ziel – zeigt dein Kind:

✅ Bei der Bindungsperson: Emotionale Offenheit, auch negative Gefühle

✅ Bei anderen Bezugspersonen: Angepasstes, kontrolliertes Verhalten

✅ Vertrauen, dass die Bezugsperson immer da ist

✅ Fähigkeit, Bedürfnisse klar zu kommunizieren

Gäste-Verhalten vs. Zuhause-Verhalten

Denk an dich selbst: Verhältst du dich bei Freunden genauso wie zu Hause mit deinem Partner? Natürlich nicht. Bei Besuch bist du aufmerksamer, höflicher, kontrollierter. Zu Hause ziehst du die Jogginghose an und lässt dich aufs Sofa fallen.

Genau so geht es deinem Kind:

Bei Oma = Gäste-Verhalten

• Höflich und angepasst

• Auf guten Eindruck bedacht

• Kontrolliert und funktionierend

Bei dir = Zuhause-Verhalten

• Echt und ungefiltert

• Manchmal chaotisch

• Alle Emotionen erlaubt

• Authentisch

Was das für deine Erziehung bedeutet

In meinen Coachings erlebe ich immer wieder Tränen. Mütter, die sich als Versagerinnen fühlen, weil ihr Kind “überall besser funktioniert als bei mir”.

Lass mich dir etwas sagen: Du machst es RICHTIG.

Die Zeichen einer starken Eltern-Kind-Bindung

Wenn dein Kind bei dir schwieriger ist als bei den Großeltern, zeigt das:

✅ Tiefes Vertrauen – Dein Kind weiß, du liebst es bedingungslos

✅ Sichere Bindung – Bei dir darf es alle Gefühle zeigen

✅ Emotionale Sicherheit – Du bist die wichtigste Bezugsperson

✅ Gesunde Entwicklung – Dein Kind lernt, Emotionen auszudrücken

Du schaffst einen Raum, in dem dein Kind aufhören kann zu funktionieren und einfach Kind sein darf – mit allen Bedürfnissen, allen Emotionen, allem Chaos.

Du musst nicht wie Oma sein

Du musst nicht:

• Strenger werden

• Konsequenter sein

• Autoritärer erziehen

• Dein Kind zum Funktionieren bringen

Was bei dir zuhause passiert – so anstrengend es manchmal ist – entspricht entwicklungspsychologisch genau dem, was dein Kind braucht.

Die richtige Antwort auf “Bei uns funktioniert das halt”

Wenn Oma das nächste Mal stolz verkündet, dass bei ihr alles problemlos läuft, denk innerlich:

“Ja, bei euch funktioniert mein Kind. Bei mir darf es leben, fühlen und wachsen.”

Dein Kind testet nicht deine Grenzen, um dich zu ärgern. Es zeigt dir sein wahres Selbst, weil es dir bedingungslos vertraut.

So stärkst du die Bindung zu deinem Kind weiter

Auch wenn du bereits vieles richtig machst, gibt es Wege, die Eltern-Kind-Bindung bewusst zu stärken:

Präsenz zeigen: Qualitätszeit mit ungeteilter Aufmerksamkeit

Emotionen benennen: “Ich sehe, du bist gerade wütend”Bedürfnisse ernst nehmen: Auch wenn sie dir gerade ungelegen kommen

Körperliche Nähe: Kuscheln, in den Arm nehmen, Händchen halten

Verlässlichkeit: Versprechen einhalten, da sein wenn es schwierig wird

Fazit: Dein “schwieriges” Kind ist dein Kompliment

Das Verhalten deines Kindes bei dir ist kein Zeichen deines Versagens. Es ist ein Zeichen deines Erfolgs als Bindungsperson.

Die Wissenschaft bestätigt: Eine starke Bindung zeigt sich nicht daran, dass Kinder überall gleich brav funktionieren. Sie zeigt sich daran, dass Kinder bei ihrer wichtigsten Bezugsperson authentisch sein dürfen.

Du machst nichts falsch. Du machst alles richtig.

Kennst du diese Situation auch? Teile deine Erfahrungen in den Kommentaren – du wirst sehen, du bist nicht allein mit diesem Gefühl!